Für Orte des innigen Verabschiedens
Gedanken über eine verloren gegangene Kultur und Typologie.
Emil Finn Jung
Sich oder etwas verabschieden scheint – mir jedenfalls – keine gegenwärtige Praxis zu sein. Es fängt beim unbewussten Wegwerfen verschiedener Produkte an. Nimmt hässliche Formen im Abriss verschiedenster Bauwerke und kulturellem Erbe an (meist um darauf ein generisches, profitmaximierendes Etwas zu setzen). Oder zeigt sich im, aus diversen und sicherlich auch guten Gründen, Aus-dem-Leben-Stoßen (ehemals) befreundeter Personen. Tschüss! Nein, wir halten nicht inne, wir überlegen nicht zweimal… und schauen dann auch nicht zurück, nachdem wir uns getrennt haben. Ein Raum, der symptomatisch dafür steht und in seiner Gestaltung vielleicht zum gesellschaftlichen Nicht-Verabschieden beiträgt, ist die Konfiguration aus hektischen Individuen, wirren Rufen und Durchsagen, Rolltreppen, zugigen Plattformen, defensiven Architekturen und dutzenden Fast-Food-Geschäften, die wir gemeinhin Bahnhof nennen.
Wie unglaublich aufenthalts- und somit menschenunfreundlich der Berliner Hauptbahnhof ist, fällt mir jedes Mal aufs Neue auf, wenn ich das Pech habe dort ein- oder aussteigen zu müssen. Da sind diese langsamen Aufzüge, die für Kinderwägen oder Rollstühle sehr klein sind und bei denen ich genau aufpassen muss, dass sie mich nicht auf ein falsches Gleis bringen. Da sind die wenigen Toiletten, die ernsthaft einen (!) Euro kosten und die Unübersichtlichkeit bzw. schlechte Beschilderung und Wegeleitung des Bahnhofs. Nicht zuletzt beseitigen die wenigen Sitzgelegenheiten jeden letzten Willen, sich hier aufzuhalten. Im rauen Berliner Winter zieht es ordentlich über die schmalen Gleise, sodass mensch sich selbst bei kurzen Verspätungszeiten nicht selten eine Erkältung einfängt. Dass das natürlich der Plan der Architekt*innen und Projektentwickler*innen war, ist kein Geheimnis. Schließlich sollen sich die Reisenden möglichst schnell in eines der muffig riechenden Geschäfte begeben. Obdach- und wohnungslose Menschen werden u.a. durch abweisende Sitzbänke vom Schlafen am Hauptbahnhof komplett abgehalten. Ohne ihn komplett denunzieren zu wollen, trifft wohl Marc Augés Nicht-Ort auf den 2006 eröffneten Hauptbahnhof zu.
Gibt mensch Bahnhof und verabschieden in einer Bilder-Suchmaschine ein, so fällt auf, dass knapp drei Viertel der Bilder schwarz-weiß sind und historische Aufnahmen von Verabschiedungen zeigen. So ließe sich die Vermutung aufstellen, dass der Bahnhof früher noch häufiger ein Ort des Verabschiedens war. Dies könnte an gesellschaftlichen Veränderungen sowie auch architektonisch-stadtplanerischen Veränderungen liegen. In den multiplen Krisen und sich überschlagenden Zeiten, in denen wir mit einer enorm hohen Geschwindigkeit leben, könnte das allerdings ein großer Verlust sein. Der Evolutionspsychologe Eric Klinger bezeichnete die Trennung von Zielen, Menschen oder Orten einmal als psychische Erdbeben. Um eine Trennung – sei es von der geliebten Planik oder der Vorstellung, Berlin sei ein Ort progressiver Politik – zu verarbeiten, um das Diffuse fassbar zu machen, um eine bewusste Beziehung zu uns und Bestandteilen unserer Umwelt, die wir durchrasen, zu führen, sind Verabschiedungen unerlässlich. Was wir neben einem Bewusstsein dafür vielleicht brauchen, sind Orte zur Einübung des Verabschiedens. Wie sehen die Bahnhöfe aus, in denen ich selbst beim ersten Besuch meinen Weg zum Gleis finde und ich Zeit und Raum habe, den Moment für das zu Verabschiedende und mich zu nutzen? Wie können Bahnhöfe ihre reine Transitfunktion überwinden und sich positiv auf Aufenthalt auswirken? Wie sehen Räume aus, in denen Begegnungen und Trennungen möglich werden? Wo sind also die Kuschelecken auf jedem Gleis? Wo kann ich mich in Ruhe hinsetzen, um in mich zu gehen, bevor ich in den Zug steige? Wo sind die Taschentuchspender? – für Tränen aus Trauer und Freude. Denn eins ist klar: dort, an Bahnhöfen, finden nicht nur Verabschiedungen statt, sondern auch Wiedersehen. Bevor wir uns freudig in die Arme fallen können, müssen wir uns verabschieden. Wenn das eine möglich wird, dann folglich auch das andere.